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Suizidneigungen?
Jenseitstheorien...
 

                                   Sehnsucht nach dem Nichts
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              Eine pessimistische Philosophie gegen den naiven Suizid


Schopenhauer als philosophischer Pessimist *) sagt, diese Welt wäre besser nicht bzw. wäre besser nie gewesen.

Unser metaphysisches Urwesen (Gott, Natur, blinder Wille, M@L, wie man es auch nennen will) ist bar jeder Vernunft und Moral.

Das Dasein als Lebewesen in dieser Welt ist eine unglaubliche Zumutung, unser Leid ohne Maß und Ziel.

Wir müssen andere Lebewesen verdauen oder werden selber verdaut, müssen verletzen und werden selber verletzt, sind ungerechten Schicksalsschlägen ausgeliefert usf.

Der philosophische Pessimist orientiert sich am Ideal des absoluten Nichts i.S.v. absoluter Bewusstlosigkeit – Nichtsein sollte doch mindestens zur Alternative stehen!

Als ontologischer Materialist **) würde er damit zum Suizid neigen, in der Annahme, dass der Tod endgültige Bewusstlosigkeit bringt.

Aber schon Shakespeare's Hamlet zweifelt im berühmtesten Bühnenmonolog der Welt am ersehnten Nichtsein im Tod.

Der naive Suizid wäre ein Suizid im bedenkenlosen Vertrauen darauf, dass der biologische Tod uns ein für alle Mal vernichtet bzw. erlöst.

Der vorsichtige philosophische Pessimist jedoch hält das Nichts für schlimmstenfalls unerreichbar, dennoch bleibt es seine primäre Orientierung.

Als ontologischer Idealist ***) versucht er, sich dem evt. unmöglichen Nichts anzunähern im "reinen Sein", d.h. in der Ruhe bis Leere von Gedanken und Gefühlen.

Für das diesseitige Leben bedeutet das einen Quietismus im asketischen bzw. kontemplativen Sinn, d.h. Verzicht auf den gesellschaftsüblichen Aktionismus.

Solch ein Rückzug ist auch die richtigere Lebensweise angesichts der industriellen Umweltzerstörung, welche gerade auf ihren Point of no Return zusteuert.

Aber wenn dem Pessimisten die Aussicht auf sein endgültiges Nichts im Tod viel zu schön vorkommt, um wahr zu sein – womit rechnet er dann? Hölle? Wiedergeburt?

Das mir aktuell plausibelste Jenseitsmodell leitet sich ab vom analytischen Idealismus nach Kastrup. Klassischer Ausgangspunkt: alles ist Bewusstsein bzw. das ganze Universum ist IM Bewusstsein.

Und ein Subjekt kann viele andere dissoziieren, wie die (inzwischen mit neurologischen Bildgebungsverfahren klinisch nachweisbare) dissoziative Identitätsstörung beim Menschen zeigt.

Dies inspiriert Kastrup zu folgender Einteilung des universellen Bewusstseins: a) die unbelebte Natur als EIN unendliches Wesen und b) die belebte Natur als zahllose endliche Wesen.

a) Die unbelebte Natur ist der EINE M@L (Mind at Large, Begriff von Huxley): unendlich bzw. unbegrenzt und gewissermaßen allwissend, dabei aber instinktiv bzw. unreflektiert.

Er ist nur phänomenal bewusst, d.h. es fühlt sich irgendwie an, der M@L zu sein – eine innere Wirklichkeit unreflektierter Gedanken und Gefühle.

b) Die belebte Natur sind wir zahllosen vom M@L vorübergehend dissoziierten Lebewesen i.S.v. Subjekten mit je privatem Bewusstsein.

Wir sind endlich bzw. begrenzt und gewissermaßen unwissend, dabei aber zumindest als höchstentwickelte Lebewesen nachdenklich bzw. reflektiert.

Wir sind metabewusst (d.h. uns unseres Bewusstseins bewusst), und zu unseren inneren Wirklichkeiten kommen unsere äußeren Wahrnehmungen.

Es gibt also eine "Welt da draußen", die nicht in unserem privaten Bewusstsein stattfindet; aber sie ist nicht materiell, sondern mental: die Gedanken und Gefühle des M@L.

Diese bewirken an unserer dissoziativen Grenze (und nur dort) eine sog. Physik der Erste-Person-Perspektive in einem subjektiven Raumzeit-Gerüst – es gibt kein objektives Blockuniversum.

Die Auffächerung in Raum und Zeit gibt es nur für uns; der M@L hingegen ist eine Art allumfassende Datenbank, deren Inhalte assoziativ bzw. über Ähnlichkeiten miteinander verknüpft sind.

Unsere begrenzte Wahrnehmung kennt nur ausschnitthafte Phänomene, wohingegen in der eigentlich zugrundeliegenden grenzenlosen Wirklichkeit des M@L alles mit allem zusammenhängt.

Solange unsere dissoziative Grenze intakt ist, lässt sie nur evolutionär überlebenswichtige Information durch, vergleichbar den Anzeigen der Instrumente im Cockpit bei einem Blindflug.

Unser angeborenes Raumzeit-Gerüst wird bloß mit für uns elementaren Empfindungen bestückt, und diese wiederum werden mithilfe erlernter Narrative interpretiert.

Wird die dissoziative Grenze aber porös, geht das Lebewesen wieder auf im M@L bzw. wird reassoziiert vom M@L oder zumindest kurz geflutet mit Inhalten des M@L.

Während solcher veränderten Bewusstseinszustände beendet bzw. reduziert das Gehirn seine Aktivität als Filter, lässt M@L-Inhalte ungefiltert bzw. weniger gefiltert passieren.

Letztere Eindrücke sind im Vergleich zur normalen Wahrnehmung dermaßen hyperreal, dass man sie nie wieder vergisst – aber nicht selten lange (auch lebenslang) verdrängt.

Unter dem materialistischen Paradigma erscheint es paradox, dass bei minimaler Hirnaktivität maximale Eindrücke bzw. die bleibendsten Erinnerungen entstehen.

Erst das Gehirn als (deaktiviertes) Filter zwischen M@L und Ego erklärt den Inhaltsreichtum veränderter Bewusstseinszustände im Sterben bzw. während Nahtoderfahrung, Meditation, psychedelischem Trip u.v.a.

Dann ist ontologisch strenggenommen der M@L die einzige Wirklichkeit, überhaupt sind wir alle im Grunde ein und derselbe M@L – wie ein Träumender erschafft er uns als seine partikularen Illusionen.

Die Protagonisten eines Traums sind nur flüchtige Trugbilder, denen der Erwachende i.a. nicht nachtrauert – aber für jeden von uns folgt auf den endgültigen Ego-Tod das Erwachen als M@L!

Ist der M@L gewissermaßen als Solipsist noch verzweifelter als wir? Haben wir hier im Diesseits als Lebewesen vergleichsweise unsere Ruhe und im Jenseits als M@L droht wieder Sturm?

Auch dem idealistischen Pessimisten muss m.E. unplausibel vorkommen, was sich hier als Hoffnung aufdrängt: dass der unreflektierte M@L dereinst mit dem Dissoziieren aufhört und zur Leere findet.

Trotzdem sollten wir ihm das Richtige vorleben: des reflexionsfähigen Menschen beste Idee zur Erlösung bei unhintergehbarem Bewusstsein erscheint mir heute, was die östliche Weisheit Nirwana nennt.

À la Schopenhauer: möge der blinde Wille sich läutern und sein Individuationsprinzip aufgeben bzw. sich mit dem reinen Sein bescheiden, wenn nicht gar, sich selbst aufhebend, mit dem Nichts.


*) Unterscheide: der landläufige Pessimismus prophezeit ein schlimmes Ende; der philosophische Pessimismus hingegen besagt, dass diese Welt besser nicht wäre.

**) Unterscheide: der landläufige Materialismus meint das Streben nach materiellem Besitz; der ontologische Materialismus hingegen besagt, alles bestehe aus Materie.

***) Unterscheide: der landläufige Idealismus meint das Streben nach hehren Zielen; der ontologische Idealismus hingegen besagt, alles sei mentaler Natur.


online gestellt am 17.07.2024, zuletzt editiert am 14.08.2024

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